Eltern in der Corona-Krise: Oder die Systemrelevanz von (unbezahlter) Care-Arbeit

Notbetreuung. Ständiges Umplanen. Neue Herausforderungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Ein Rückblick auf die Entwicklungen nach einem Jahr unter Pandemie-Bedingungen war Inhalt verschiedener Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag im Kreis Pinneberg. Über aktuelle Studien zur Verteilung der Care-Arbeit und die Situation von Eltern und Kindern während der Corona-Pandemie hatte Dr. Sonja Bastin berichtet. Zwei Monate später hat sich für Eltern und Kinder im Kreis noch nicht viel verändert. Sie pendeln zwischen Notbetreuung, ggf. Quarantäne und Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen hin und her – zwischen aufkommender Hoffnung und bleibender Unsicherheit.

Liebe Frau Dr. Bastin, mehr als ein Jahr Pandemie haben Eltern nunmehr gestemmt. Welches waren und sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für Familien?

Offenkundig ist vor allem, dass es, noch mehr als vor der Pandemie, an verlässlichen Strukturen mangelt, um sich dauerhaft sowohl ausreichend um die Kinder als auch um die eigene ökonomische Sicherheit und die eigene Gesundheit zu kümmern. Die wenigen, nur schleppend etablierten Instrumente, um Eltern Erwerbsreduktion zu ermöglichen, damit sie bei eingeschränktem Kita- und Schulbetrieb oder hohen Infektionszahlen die Kinder zu Hause versorgen und bilden können, sorgen nicht für ausreichend langfristigen Schutz auf dem enger werdenden Erwerbsmarkt. Es gibt keinen Kündigungsschutz, keinen Schutz vor Diskriminierung von sorgearbeitenden Eltern, keine Mechanismen, die davor bewahren, dass das Fehlen am Arbeitsplatz mit Nachteilen in der beruflichen Position und am Ende mit Risiko für Rente und finanzielle Unabhängigkeit einhergeht. Gerade, weil Sorgearbeit in den bestehenden neoliberalen kapitalistischen Strukturen nicht als Aufgabe aller und als Fundament von Wirtschaft und Gesellschaft anerkannt und strukturell verankert ist. Aufgrund der bestehenden institutionellen und normativen Strukturen trifft all dies vor allem Mütter hart. Gerade auch die ständigen Wechsel und Reorganisations- Abwägungs- und Entscheidungsanforderungen, ohne tatsächlich eine reelle Wahl zu haben, haben ihre Mental Load in der Krise noch mal enorm gesteigert.

Dr. Sonja Bastin ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen. Sie wurde im Februar 2021 gemeinsam mit 10 anderen Kandidatinnen zur „Bremer Frau des Jahres“ gewählt. Die Jury des Landesfrauenrates würdigte sie für ihr Engagement für die Sichtbarmachung der oft gering geschätzten bezahlten wie unbezahlten Care-Arbeiter*innen. Sie ist außerdem ehrenamtlich aktiv in der Initiative „Equal Care Day“ (www.equalcareday.de).

Sie benennen die gerechte Verteilung und die Wertschätzung von Sorgearbeit als „Schlüssel zur Gleichstellung“. Wie meinen Sie das?

Am Beispiel des Lebenseinkommens wird das gut deutlich. Männer und Frauen ohne Kinder haben heute Aussichten auf ein sehr ähnliches Niveau von Gesamtlebenseinkommen. Frauen mit Kindern hingegen verdienen 50-70 Prozent weniger über ihr Leben hinweg als Frauen ohne Kinder. Der Unterschied ist über die letzten Jahre sogar größer geworden. Weil zwar Gleichstellung vorangebracht wird, aber ohne das Thema Sorgearbeit ausreichend zu berücksichtigen. So wird zum einen nicht ausreichend unterstützt, dass Sorgearbeit zwischen Vätern und Müttern gerechter verteilt wird – denn viele wünschen sich das, stoßen aber auf Hürden. Die liegen in den ungleichen Löhnen von weiblich und männlich konnotierten Berufen, genauso aber auch im Steuersystem, innerpartnerschaftlichen Machtverhältnissen (männliche heterosexuelle Partner sind häufig älter, damit in ihrer Karriere weiter und haben so zusätzlich eine günstigere Verhandlungsposition) und in unserer Sozialisation, die noch immer Frauen die Letztverantwortung für das Funktionieren der Familie zuschreibt.

Zum anderen erhält Sorgearbeit nicht genügend ökonomische Wertschätzung. Selbst bei gleicher Aufteilung von Sorgearbeit innerhalb der Familie besteht ein immenses Zeit-, Geld- und Mitbestimmungsdefizit gegenüber Familien ohne Kinder oder zu pflegenden Angehörigen. Dass hier nicht ausreichend kompensiert wird, resultiert nicht nur darin, dass Menschen bestehende Kinderwünsche nicht umsetzen, es resultiert auch in einem enormen Stresslevel in Familien inklusive aller Nachteile für die eigene Gesundheit, die Partnerschaft und das Kindeswohl, darin, dass Familien mit mehreren Kindern sowie Trennungsfamilien häufiger von Armut bedroht sind und in Entscheidungspositionen unterrepräsentiert sind, weil sie eben nicht 40-60 Stunden in der Woche in politische oder Erwerbsarbeit investieren können. Somit verfestigen sich die Strukturen nachhaltig.

Und was wären Ihrer Meinung nach geeignete Maßnahmen, um die Folgen der „Care-Krise“, die wir aktuell wahrnehmen können, abzumildern? Was sollten wir in einem erneuten Lockdown anders machen?

Maßnahmen, um die Care-Krise abzufedern, liegen seit Langem auf dem Tisch. Im Equal Care Manifest wurden viele davon im vergangenen Jahr aktuell zusammengetragen – es kann weiterhin unterzeichnet werden. Wären wir da weiter, wäre auch jetzt in der Krise für Familien, gerade für Mütter vieles anders gelaufen. Zum Beispiel wird eingefordert, dass haushaltsnahe Dienstleistungen staatlich gefördert werden. Die Maßnahme ist im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankert, wurde aber weder umgesetzt, noch gibt es eine breite Aufmerksamkeit dafür. Hätten Familien einen Teil ihrer Mehrfachbelastungen durch Home-Schooling, Home-Kindergardening, Home-Kripping, kochen, putzen, einkaufen unterstützt an angemessen bezahlte Dienstleister abgeben können, hätte die Gesellschaft zumindest im Ansatz einen Teil zur Sorgearbeit beitragen können und demonstrieren: Wir wissen, dass das auch unser Job ist, uns um die Zukunft unserer Gesellschaft zu kümmern. Stattdessen gab es nicht einmal Appelle durch Politiker*innen, dass bspw. Nachbar*innen für Familien mit Kindern kochen oder einkaufen gehen sollen, um Entlastung zu schaffen.

Auch die Orientierung an einem Erwerbs- und Sorgemodell wie im Equal Care Manifest gefordert bildet eine zentrale Forderung ab, die auch in Lockdowns umzusetzen wäre: Erwerbszeit muss ausgerichtet an den Sorgearbeitsanforderungen bei vollem Lohnausgleich reduzierbar sein. Denn Care-Arbeit ist Arbeit. Damit einhergehend ist eine Sicherstellung von Betreuung und Bildung natürlich elementar. Das bedeutet Investition in Personal und Räumlichkeiten, in der Pandemie aber auch sonst. Und gerade aktuell bedeutet es eben auch, dass das Infektionsgeschehen in anderen Gesellschaftsbereichen an der Sensibilität des privaten Sorgesystems ausgerichtet sein muss. In Kitas und zu Hause können keine Abstände gehalten werden. Es ist also wichtig, dass z.B. an Arbeitsorten keine Infektionen stattfinden, um Kinder und Sorgearbeitende zu schützen. Leider zeigt sich auch daran, dass es keine politische Debatte dazu gab, inwiefern Eltern in der Impfreihenfolge zu priorisieren sind, dass die Systemrelevanz dieser Gruppe nach wie vor nicht anerkannt ist.

Liebe Frau Bastin, herzlichen Dank für das Interview. Einen ähnlichen Vortrag hatte Frau Dr. Bastin auch im Rahmen des Equal-Care-Days gehalten. Ein Transcript dazu kann hier gefunden werden: www.equalcareday.de

Du willst noch mehr von Dr. Sonja Bastin lesen/hören?
Großartig, denn es gibt einige Beiträge von ihr (die jeweiligen Links sind hinterlegt) in Podcasts wie:
„Demografie und Gesellschaft im Fokus“ der Deutschen Gesellschaft für Demographie e.V.
Covid 19 – ein Mosaik der Universität Bremen
Rolle Rückwärts der Arbeitskammer Bremen
und auch als Blogbeiträge, wie :
im Equal-Care-Day-Blog „Private Sorgearbeit: Systemrelevant und trotzdem unsichtbar“ (2020)
im Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung „Die Systemrelevanz von unbezahlter Elternarbeit“ (2020)
oder im Blog frauenseiten.bremen „Wie Eltern, Kinder und Pflegende systematisch missachtet werden – und wie wir dies beenden“.

Ein Beitrag von Hannah Gleisner, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Quickborn