Über Liebe & Leidenschaft: Toxische Beziehungen in romantischen Geschichten

Als Kind habe ich Grimm‘s Märchen geliebt und auch als Erwachsene verschlinge ich noch immer Adaptionen dieser Geschichten. Ich liebe sie auch immer noch, aber irgendwann ist mir aufgefallen, dass sie einige Verhaltensweisen zeigen, die keineswegs alltagstauglich sind. Da denke ich zum Beispiel an Dornröschen oder Schneewittchen: Sie ist bewusstlos und der Prinz küsst sie. Was als Rettung gefeiert wird, ist doch aber Missbrauch! Würde das im Club passieren, ist das ein Fall für die Polizei und das Gericht. Aber weil Dornröschen und Schneewittchen im Märchen dadurch gerettet wurden, ist das natürlich kein Problem. Nein, sie heiraten ihre Retter zum Dank. Diese Übergriffigkeit ist aber keine alte Kiste, sondern nach wie vor aktuell:

Zwei Klassenkamerad*innen, die sich ganz offensichtlich zueinander hingezogen fühlen, sind gemeinsam im Restaurant: „Woher hast du gewusst, wo ich war? (…) Bist du mir gefolgt?“ Verlegen weicht er aus: „Ich hab das starke Gefühl, dich beschützen zu müssen.“ Sie schlussfolgert völlig richtig: „Also bist du mir doch gefolgt.“

Twilight – Biss zum Morgengrauen

Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für sie, ihm unmissverständlich klarzumachen, dass er damit eine Grenze überschritten hat. Vielleicht sollte sie sogar aufstehen und gehen, ihn wegen Stalkings anzeigen. Doch sie tut nichts dergleichen. Warum nicht? Weil sie auf ihn steht? Weil er sie aus einer gefährlichen Situation gerettet hat? Selbst das rechtfertigt nicht, dass er ihr folgt.

In einer anderen Situation überrascht er sie in ihrem Schlafzimmer. Sie wundert sich, wie er unbemerkt dorthin kam und will wissen, ob er das öfter macht. „Erst seit ein paar Monaten“, gibt er grinsend zu. Weil sie das so süß findet, gibt es zur Belohnung den ersten Kuss.

Twilight – Biss zum Morgengrauen

Auch dies ist eine Situation, in der er eine Grenze überschreitet, aber keine negativen Konsequenzen erfährt. Schließlich wird es als Beweis seiner Liebe gedeutet. Und das ist ein massives Problem. Wenn in romantischen Filmen, Serien oder Büchern übergriffiges Verhalten als Liebesbeweis stilisiert wird, wie sollen Menschen dann erkennen, wenn sie in einer toxischen Beziehung stecken? Da fragt frau sich eher, ob mit ihr etwas nicht stimmt, wenn sie es nicht super süß findet, wenn der*die Partner*in ihr beim Abend mit Freund*innen ständig whatsappt und sie die Zeit mit ihren Freund*innen nicht genießen kann. Jeder Wutausbruch, jede Eifersuchtsszene wird dann als Beweis seiner Liebe gewertet und das ist ja wohl kaum etwas Schlechtes, oder?

Besonders junge Menschen, die keine oder kaum eigene Erfahrungen in Liebesdingen gesammelt haben, lernen solche Muster aus den Medien, die sie konsumieren. Klar, der Grundstein wird in der eigenen Familie gelegt, aber mit der Pubertät orientieren sie sich zunehmend an anderen Vorbildern. Deshalb ist es umso bedenklicher, wenn übergriffiges Verhalten als normal oder gar als „Liebe“ dargestellt wird.

Ein tyrannischer Prinz wird zur Strafe in ein Monster verwandelt und kann nur durch die Liebe einer Frau von dem Fluch erlöst werden. Dann trifft er auf eine junge Frau, die ihren Vater zu retten versucht, nimmt sie gefangen und straft sie mit Hausarrest und Essensentzug, wenn sie sich nicht an seine Regeln hält. Als er merkt, dass er den Bogen überspannt hat und ihn das nicht zur Erlösung bringt, bittet er um Verzeihung indem er ihr ein Geschenk macht. Jeden Ausbruch seines Jähzorns wiegt er mit einer großmütigen Tat auf, sodass sie sich am Ende in ihn verliebt und ihn vom Fluch befreit.

Die Schöne und das Biest

Die Frau kann den Mann im Film oft „retten“, weil sie „die Eine“ ist. Oder „Liebe“ bringt den Mann auf den richtigen Weg. So lernen wir es aus den Geschichten. Aber in der Realität ändert sich missbräuchliches Verhalten nicht über Nacht! Das Ablegen solcher Muster erfordert die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten und in vielen Fällen jahrelange therapeutische Begleitung. Das ist aber nicht so leinwandtauglich.

Ein Straßenjunge wirbt als Prinz verkleidet um die Hand einer wunderschönen Prinzessin und sie verliebt sich in ihn. Als der Schwindel auffliegt, ist sie zwar sauer, aber vergibt ihm dann doch, weil er ja „aus Liebe“ gehandelt hat und sie vor jemandem rettet, der sie noch schlimmer behandelt.

Aladdin und die Wunderlampe

Wenn also der falsche Prinz seine Traumfrau vor jemandem rettet, der sie noch schlechter behandelt, dann sind die Grenzüberschreitungen des falschen Prinzen vergeben und vergessen. Nur macht ihn diese Rettung nicht zu einem besseren Menschen. Genausowenig, wie ihn die Liebe der richtigen Frau zu einem besseren Menschen machen kann.

Diese ungesunde Dynamik ist nicht nur für Frauen* problematisch, die lernen, dass sie jemanden nur stark genug lieben müssen, um alle Hindernisse überwinden zu können – sei es Alkoholsucht wie in „A Star is born“, Gewaltausbrüche wie im Netflix-Film „365“ oder Kontrollzwang wie wir ihn in „50 Shades of Grey“ erleben.

Auch Männer* lernen durch solche Geschichten, dass man jemanden durch Lügen, Stalking, Reue im richtigen Moment  oder Bedrängen „(zurück)gewinnen“ kann. Dass es richtig ist, sich „von einem Nein nicht entmutigen zu lassen“, sondern das Objekt der Begierde so lange weiter zu umwerben, bis sie*er nachgibt. Und dass man nur „die*den Richtige*n“ finden muss, um seine eigenen Dämonen besiegen zu können.

Meistens sind Probleme aber nicht gelöst, weil man endlich seine Traumfrau*mann als bae (before anyone else, deutsch: vor allen anderen) an der eigenen Seite weiß. Der Schein trügt, denn der Anfang einer Beziehung ist immer toll, wir schweben auf Wolke sieben und die Probleme treten in den Hintergrund. In dieser Phase fällt es auch besonders leicht, die eigenen Zweifel beiseite zu schieben, weil „er*sie mich liebt“ oder auch erweitert als „er*sie liebt mich, kann es aber nicht zeigen“.

Klar, es gibt Situationen, in denen man sich auf seine*n Partner*in verlassen können muss. Wir haben alle schlechte und bessere Zeiten. Nicht jede Durststrecke sollte ein Anlass sein, die Reißleine zu ziehen und eine Beziehung zu beenden. Sicher kann Vieles geklärt werden, wenn Partner*innen miteinander offen und ehrlich reden, ggf. auch mit professioneller Hilfe. Aber wenn du dich fragst, ob du das überhaupt noch willst oder kannst, wenn du zweifelst, ob deine Beziehung dir guttut, dann ziehe jemanden ins Vertrauen – egal ob Freund*in, Familie oder eine*n Therapeuten*in.

Schließlich wissen wir nicht, was aus Schneewittchen geworden ist, nachdem sie geheiratet hat. Denn wir wissen leider nicht, was sich hinter „glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ verbirgt. Das Geheimnis haben die Gebrüder Grimm uns leider vorenthalten, also müssen wir uns selbst um unser Glück kümmern und keinen „Normalzustand“ zu haben, an den frau sich halten muss, kann ja auch ziemlich befreien.

Danke für die Inspiration an den Podcast „Feuer & Brot“ von Alice Hasters und Maximiliane Haecke, der das Thema in der Folge „toxische Beziehungen in romantischen Filmen – Stalking ist nicht sexy“ vom 19. September 2019 aufgegriffen haben (https://open.spotify.com/episode/38rBwCzeohnv0iNQuBmC6C ).

Ein Beitrag von Sophie Baierl

Literatur:

  • Walt Disney Pictures (1992): Aladdin und die Wunderlampe.
  • Warner Bros. Pictures (2018): A Star is Born.
  • Brüder Grimm: Dornröschen. In: Grimm, Jacob & Grimm, Wilhelm (Hrsg., 2020): Grimms Märchen, Esslinger Verlag, S. 9ff.
  • Walt Disney Pictures (1991): Die Schöne und das Biest.
  • Focus Features (2015): Fifty Shades Of Grey.
  • Brüder Grimm: Schneewittchen. In: Grimm, Jacob & Grimm, Wilhelm (Hrsg., 2020): Grimms Märchen, Esslinger Verlag, S. 148ff.
  • Summit Entertainment (2008): Twilight – Biss zum Morgengrauen.
  • Netflix (2020): 365 Days.