Wenn wir das Thema „Frauengesundheit“ hören, denken wir meist an Gynäkologie und reproduktive Rechte. Daran, dass manche Erkrankungen bei Frauen andere Symptome auslösen als bei Männern: Populäres Beispiel ist hier der Herzinfarkt. Doch mit einem geschlechtersensiblen Blick auf Gesundheit, wie ihn die Gendermedizin verfolgt, ist weitaus mehr gemeint. Dies erläuterten Laura Wortmann und Awa Naghipour in einem Fachvortrag anlässlich der Frauengesundheitswoche im Kreis Pinneberg.
Schon die Frauengesundheitsbewegung in den 1970er Jahren kritisierte den Androzentrismus der Medizin: Lange Zeit wurde die Vielfalt von biologischen Körpern in Forschung und Lehre ausgeblendet. Als „Standardpatient“ oder „Standardproband“ gilt bis heute ein weißer Mann, der ca. 70 kg wiegt und keine körperliche Einschränkung hat. Ein Negativbeispiel für die Vernachlässigung von Geschlecht in der Forschung zeigt zum Beispiel die zum Herzmedikament Digoxin: Hierzu wurde 1997 eine Studie durchgeführt, bei der nur ein Sechstel der Proband*innen weiblich war und in der Geschlechteraspekte nicht thematisiert wurden. In einer späteren Studie zu dem Medikament, die geschlechtsspezifisch ausgerichtet war, stellte sich heraus, dass das Medikament bei Frauen weniger wirkte und ihre Sterblichkeit sogar um 4,2 % erhöhte. „Frauen brauchen eine andere Medizin!“ heißt daher eine der Forderungen der Frauengesundheitsbewegung.
Die Fokussierung auf den weißen, männlichen Körper ist nicht nur in der Forschung, sondern leider auch nach wie vor in der Lehre präsent: Abbildungen in Medizinbüchern zeigen meist nur Menschen mit weißer Haut. Wie sollen die Studierenden dann aber lernen, wie Hautkrankheiten zum Beispiel bei Schwarzen Menschen aussehen?
Das neue Gebiet der geschlechtersensiblen Medizin, auch Gendermedizin genannt, geht über die Fokussierung von körperlichen Merkmalen hinaus, wie Laura Wortmann und Awa Naghipour in ihrem Fachvortrag erörtern. Beide sind beschäftigt am Arbeitsbereich 10 Geschlechtersensible Medizin der Universität Bielefeld unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, die die erste Professur für geschlechtersensible Medizin in Deutschland besetzt.
Was die Gendermedizin auszeichnet ist eine intersektionale Perspektive auf Geschlecht und auch ein Fokus auf die soziale Geschlechtsdimension. „Geschlecht besteht für uns Medizinerinnen nur zum einen aus dem biologischen Geschlecht, damit meinen wir die ‚3 G‘- Genome, Genoden und Genitalien“ erläutert Laura Wortmann. Doch Geschlecht hat auch eine zweite Dimension: das soziale Geschlecht. Damit sind zum Beispiel unsere Geschlechtsidentität aber auch die Geschlechterrollen gemeint, die immer noch maßgeblich unser Verhalten bestimmen. Diese haben Einfluss auf unsere Ernährungsweise, ob wir Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen und wie risikoreich wir uns verhalten – und somit auf unsere gesamtgesundheitliche Verfassung. Geschlecht und kulturelle Prägung beeinflussen auch, wie wir über Symptome wie Schmerzen reden – was Folgen hat für die Diagnostik und die weitere Behandlung, so erläutert Awa Naghipour in dem Fachvortrag.
Auch für viele Männer, denen meist seit ihrer Kindheit vermittelt wird, dass sie stark sein sollen und nicht weinen dürfen, hat das sehr negative Konsequenzen. Sie gehen weitaus seltener zum Arzt, haben Hemmungen sich Hilfe zu holen und sind insgesamt nicht wirklich gut in Selbstfürsorge. Hinzu kommen gesundheitsschädlichen Folgen von bestimmten männerdominierten Berufen wie die im Bergbau, auf Baustellen oder in der Industrie. [1]
Auch für die Arzt-Patient*innen-Interaktion und für die Diagnostik sind Geschlechtrerrollen und Stereotype sehr relevant, wie Naghipour erläutert. Während zum Beispiel der Herzinfarkt bei Frauen seltener diagnostiziert wird, weil sie andere Symptome aufzeigen als Männer, verhält es sich bei psychischen Störungen manchmal andersherum. Depressionen werden bei Männern seltener diagnostiziert, weil sie von anderen Symptomen begleitet werden wie Aggressivität oder Alkoholmissbrauch, die nicht als „typisch“ für eine Depression gelten. Generell ist der Bereich Psychiatrie historisch sehr weiblich konnotiert- denken wir nur an das Krankheitsbild der weiblichen „Hysterie“ im 19. Jahrhundert zurück.
Eine Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums hat die Integration von Geschlechteraspekten in die Curricula für Medizinstudierende, Physiotherapeut*innen und Krankenpfleger*innen untersucht. Sie kam zu dem Ergebnis, dass an ca. 70 Prozent der medizinischen Fakultäten die Vermittlung als „unzureichend“ bezeichnen werden kann und nicht verpflichtend ist. Dies wird sich aber ab dem Jahr 2025 mit der neuen Approbationsordnung ändern, so Naghipour.
An der neu eingerichteten Fakultät für Medizin an der Universität Bielefeld ist Gendermedizin schon verpflichtend in das Studium integriert. Neben den dementsprechenden Lehrveranstaltungen achten die Lehrpersonen auch auf geschlechtersensibles Lehr- und Anschauungsmaterial. Manchmal können das auch kleine Details sein: zum Beispiel, dass beim Reanimationstraining ein Dummy auch mal einen BH trägt und an der Universität auch weibliche Skelette bereitstehen. Leuchtturmprojekte wie dieses zeigen, dass auch ein anderer Weg möglich ist. Sie können anderen Fakultäten als Vorbild dienen.
Weitere Informationen:
Feministische Medizin e.V.
Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V.
Interdisziplinäres Zentrum für Gender in Medicine (GiM) Charité Berlin
[1] Robert-Koch-Institut: Beiträge zu Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Berlin 2014.
Ein Beitrag von Nina Timmermann, Gleichstellungsbeauftragte der Gemeinde Rellingen.